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FLASCHENPOST
AM STRASSENRAND
zu imaginieren als eine ebensolche,
der man just in diesem Moment nachstehende Schrift entnimmt
Vermutlich wundern Sie sich ein wenig.
Mitten in der Stadt ist
schließlich nicht der Ort, wo man gewöhnlich eine Flaschenpost findet. Ich weiß
natürlich nicht wo diese hier gelandet ist, gehe aber stark davon aus, dass es
eine der kläglichen Grünflächen gewesen sein muss. Sonst hätte ich es wieder
einmal klirren hören. Da unten gibt es mehr Asphalt als Grün. Weshalb man dort
auch nur selten eine Flaschenpost findet. Obwohl all die schimmernden
Scherbenhaufen am Straßenrand vermuten lassen, dass immer mal wieder jemand
eine zu schicken versucht. Wobei man kaum Briefe in den Bierlachen zwischen den
Scherben findet. Sei es, weil der Absender sie zu schreiben versäumt oder der
Wind sie davongetragen hat. Was das Ganze jedoch, wenn man jedes dieser
traurigen Splitterhäufchen als einen gescheiterten Kontaktaufnahmeversuch
betrachtet, nicht weniger tragisch macht.
Wenn Sie sich also über diese
Flaschenpost wundern, tun Sie das keinesfalls zurecht. Denn die Stadt, die
eigene Wohnung, irgendwo zwischen all diesen Menschen, die man erst bemerkt,
wenn sie vor einem die Fahrbahn oder die Supermarktkasse blockieren, ist der
beste Ort, um gestrandet, verloren und allein zu sein. Womöglich noch mit einem
Partner. Gemeinsam gestrandet, verloren und allein.
Diese Gedanken kamen mir,
als ich vor einiger Zeit aus meinem Fenster blickte. Und dort unten sah ich
sie. Alle. Wie sie in jenem grauen Ozean dahintrieben, einer Strömung
unterworfen, die jeden Tag - außer vielleicht am Wochenende – die immergleichen
Muster beschreibt.
Großstadttreibgut. Den Asphaltgezeiten unterworfen. Mitgerissen.
Morgens hierhin und abends zurück. Menschen, die sich wacker über Wasser
halten, weil man sie das Schwimmen lehrte. Von einer einsamen Insel zur
anderen. Von einem Haus, dessen Bewohner man nur vom Klingelschild kennt, an
einen Arbeitsplatz, wo jeder mit jedem ersetzbar ist und von dort aus in die
kleine Kneipe an der Ecke, wo Schiffbrüchige seit Menschengedenken allabendlich
ihre Erfahrungen austauschen, bevor jeder auf sein eigenes einsames Eiland
zurückkehrt.
Und während ich dort hinuntersah, entsann ich mich der Gespräche,
die ich hundert Mal geführt hatte. Der Zeiten, die ich, nur um nicht allein zu
sein, mit irgend jemandem unterwegs gewesen war. Der Kinoabende mit Filmen, an
die ich mich tags darauf nicht mehr erinnerte und jener wilden Nächte, in denen
ich mich auf fremde Inseln verirrte und die schließlich weder etwas bedeuteten
noch etwas änderten. All jener Dinge eben, wie unwissend Gestrandete sie
unternehmen, um sich über ihr Schicksal hinwegzutäuschen. In der irrigen
Annahme, dass es sie weniger weniger schiffbrüchig macht, wenn sie in der Lage
sind, mal eben in den Supermarkt, ins Kino oder das Stadion hinüberzuschwimmen.
Unsere
einsamen Inseln vermögen wir dabei freilich recht angenehm zu gestalten. Die
einen von uns landen auf grösseren, die nächsten auf kleineren. Aber so lange
es dort Strom, Wasser, Fern- sehen und W-Lan gibt, wird kaum einer sich
beschweren, wenn er morgens mit dem Strom schwimmen muss, um abends wieder am
heimischen Strand angeschwemmt zu werden.
Wahrscheinlich wundern Sie sich noch immer.
Weshalb ich diese
Nachricht überhaupt schreibe. Ohne zu wissen, wen sie erreicht oder ob sie
nicht womöglich doch als schillernder Scherbenhaufen zwischen den Gestaden
endet.
Ich will es Ihnen verraten: Weil ich damals am Fenster stehen blieb. Die
Flut kommen und gehen sah. Wieder und wieder.
Weil ich zu den fremden Appartmentinseln
meiner Nachbarn hinüberblinzelte, wo all die Namen von den Klingelschildern
sich duschten, rasierten, verschliefen oder zu lieben versuchten. Ich
beobachtete sie, wie sie dort vor ihren Flachbildschirmen, Tablet-Computern,
neben ihresgleichen oder hinter ihrer Zeitung saßen und sich verbissen zu
vergnügen versuchten.
Und in jedem von ihnen erkannte ich mich selbst.
Im Haus
gegenüber gibt es diesen kleinen dicken Jungen mit seiner XBox, dem seine
Mutter, damit er nicht verhungert, jeden Tag eine Juniortüte ins Zimmer wirft.
Ich hab ihn noch nie mit anderen Kindern spielen sehen. Vielleicht sollte ich
ihn entführen und ihm die Regeln der Zivilisation nahebringen. So, wie Robinson
Crusoe es einst mit seinem Kannibalen getan hat ...
Aber solche Gedanken kommen
einem wohl, wenn man zu lange aus dem Fenster sieht.
Vielleicht sollte ich
Ihnen zunächst einmal etwas über mich erzählen: Ich komme aus der Werbung.
Meine Aufgabe ist es, Ihnen Dinge zu verkaufen, die sie nicht brauchen. Aber
das wird mit jedem Tag schwerer. Denn die Konkurrenz wächst. Ganz zu schweigen
vom Angebot. Und natürlich der Tatsache, dass heutzutage jeder Eskimo längst
auch schon einen zweiten Kühlschrank besitzt.
“Wie viele Dinge es doch gibt,
die ich nicht brauche.” fiel übrigens - der kläglichen Produktpalette des
antiken Griechenlands zum Trotz - bereits dem alten Sokrates auf. Obwohl er
vemutlich nicht mal diese Schublade voller Kabel besaß, von denen er nicht mehr
wusste, wofür sie überhaupt da waren. Oder jene andere mit Gebrauchsanweisungen
von Geräten, die er längst nicht mehr besaß.
Aber ich habe meine Arbeit als Texter gut gemacht. So gut,
dass Sie sich vielleicht sogar an meinen wohl bekanntesten Slogan erinnern, der
vor noch gar nicht allzu langer Zeit über motivierten Fußballmannschaften,
glücklichen Familien, erfolgreichen Brokern und kauzigen Individualisten auf
überdimensionierten Plakaten prangte: ”Woran glaubst du?”. Eine landesweite
Kampagne für irgend eine Bank, die am Ende gerettet werden musste. Werbung für
Geld, wobei niemanden je die Antwort auf die Frage interessiert hat.
Mit dem richtigen Slogan lassen sich heutzutage Ohrringe für
Hunde, kosher Bacon und Talismane gegen Aberglauben verkaufen. Mit diesem haben
wir absurderweise Geld verkauft. Und ich habe genug damit verdient, dass die
Wohnung in der ich gestrandet bin, mir inzwischen gehört und mein Flatscreen
wahrscheinlich größer als Ihrer ist. Das Schlimme ist, dass es keine Rolle
spielt. Dass es kein Problem wäre, mir einen größeren noch zuzulegen, sobald es
mir gelingt, irgend einem Eskimo noch einen dritten Kühlschrank zu verkaufen.
Dass irgend jemand es sowieso versuchen und es ihm vermutlich sogar gelingen
wird.
Das Ganze ist eine Art Wettlauf, bei dem es um Mode, Prestige,
digitalen Schnick-Schnack und noch einiges mehr geht. Mal liegt man vorn, mal
fällt man zurück. Entweder man ist beeindruckt oder man will beeindrucken und
bemerkt inmitten all des Überholens und Überholtwerdens nicht, was dieses
Rennen um Gigabyte, PS, Megapixel und Körbchengrößen so absurd macht: nämlich,
dass es keine Ziellinie gibt ...
Nachdem ich länger dort rausgeschaut hatte, habe ich mich
übrigens wirklich gefragt, woran ich glaube. Zunächst habe ich es mit den
üblichen Antworten versucht. Zum Beispiel mit Familie, die ich der Karriere
wegen nie gehabt habe. Und dann eben mit jener Karriere, wie sie ein jüngerer,
besserer oder günstigerer Texter jederzeit ins Trudeln bringen kann. Ich habe
mich sogar gefragt, ob ich an mich glaube, was mir zwar durchaus legitim, aber
im kosmischen Zusammenhang doch eher belanglos schien. Inzwischen kann ich
jedenfalls beängstigend vieles benennen, an das ich nicht mehr glaube.
Ich habe wirklich lange nachgedacht. Auf Papier. Wort für
Wort. Seit ich mich hier auf meiner Insel verschanzt habe, werfe ich jeden Tag
eine Flaschenpost vom Balkon und hoffe, dass sie den Asphalt verfehlt und
irgendwo ankommt.
Schlussendlich hat es fast fünfzig Briefe in Flaschen an
Fremde gebraucht, bis ich eine Antwort fand: ich glaube an nicht mehr als eine
Sache. Etwas, das sich aus allem was ich je erlebt, gesehen und verstanden
habe, ergibt: Aus Krieg und Frieden, dem dicken Jungen mit seiner XBox, meinem
Flatscreen und ihrem Tablet-Computer. Denn all diesen Dingen liegt ein einziger
Umstand zugrunde: Die Fähigkeit des Menschen, Dingen Bedeutung zu geben. Frei
wählen zu können, was er für bedeutsam erachtet. Und im Gegenzug auch, was
nicht. Dann gibt es da freilich noch jene Dinge, von denen andere wünschen,
dass man ihnen Bedeutung gibt. Da sind Freunde oder Partner, die gern Bedeutung
hätten, oder auch die Werbung, die uns geradezu anbettelt, beutellosen
Staubsaugern, parfümierten Müllbeuteln oder was auch immer einen Platz in
unserem Leben zu geben. Und zuletzt gibt es noch jene Ereignisse, die vermeintlich
so bedeutungsvoll sind, dass sie uns völlig aus der Bahn werfen können.
Zumindest wenn wir es zulassen. Denn obwohl wir ohne Zweifel ausnahmslos alle
sterben werden, ist es doch an uns, unserem Leben eine größere Bedeutung als
unserem Tod zu geben ...
Vor diesem Hintergrund habe ich begonnen, meine Aufmerksamkeit
anders zu verteilen. Sie gewissen Dingen, die mir vor fünfzig Flaschen noch
vollkommen notwendig schienen, sogar ganz zu entziehen.
Ich achte nicht mehr auf Likes und poste diesen Status - auch
auf die Gefahr hin, dass niemand ihn liest - direkt auf die Straße. Denn ich
glaube daran, dass Menschen Dingen Bedeutung geben können. Und das ist
vielleicht sogar alles, was sie können. Mehr aber braucht es auch nicht.
Sie wundern sich womöglich noch immer.
Und mir ist natürlich
bewusst, dass ich keine Ahnung von Ihrem Leben habe, nicht weiß, wer Sie sind,
was Ihnen wichtig ist oder womit Sie zu kämpfen haben. Ich kenne Sie nicht und
kann Ihnen wahrscheinlich auch keine sinnvollen Ratschläge erteilen.
Aber ich
möchte Sie dennoch um eines bitten, egal wo und auf welcher Art von Insel Sie
auch gestrandet sein mögen:
Geben Sie Dingen Bedeutung.
Damit nicht andere es
für Sie tun.
Schiffbrüchigst
und mit den besten Wünschen,
A.