Montag, August 31, 2015

DIE GENTRIFIZIERUNG DES WUNDERLANDES

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DIE GENTRIFIZIERUNG DES WUNDERLANDES
oder
ich will nicht alles kaufen müssen, was ihr denkt, das ich mir vorstellen können soll



Das Wunderland, wo seit Urzeiten die phantastischen Figuren der menschlichen Vorstellung leben, erglänzt dieser Tage von Gotham bis zur Kristallstadt, von Hobbingen bis Nimmerland in hochauflösender Pracht. Überall wird saniert. Gleich, ob es sich um das waldwärtige Domizil von Rotkäppchens Großmutter, das Schloss der Herzkönigin oder die kleine, auf dem alten Friedhof errichtete Neubausiedlung im dunklen Teil des Landes handelt. Schauplätze und Darsteller von Terminator bis Schneewittchen müssen franchisetauglich gestaltet werden, wenn Investoren das Wunderland in ein neues Zeitalter führen, einen Markt von Endlosserien, Remakes, Sequels, Prequels und Drumherumerumquels kultivieren und so neue Arbeitsplätze für die Wunderlandbelegschaft schaffen. Zumindest für HD-taugliche und vor allem über- und unterdurchschnittlich attraktive Darsteller. Denn Mittelmaß gibt es jenseits des Wunderlandes genug, und seine Aufgabe besteht vor allem darin, dafür zu zahlen, sich ob des zu viel oder zu wenig erfreuen oder erschrecken zu dürfen.
Derweil werden Märchen und Mythen so weit zusammengestrichen, dass sie selbst noch ein seit zwei Jahren abgelaufener Joghurt versteht. Explosionen statt Subtext, und ein notfalls erzwungenes Loveinterest. Wichtig ist den Machern schlussendlich nur jene wohldosierte Mischung aus Beischlaf, Gewalt und Romantik, wie sie optimalerweise ab 12 freigegeben wird, damit Kinoviehtrieb und Merchandise sich auszahlen.
"Das Mädchen mit den Schwefelhölzern II - jetzt wird noch mehr gezündelt"
Productplacement im Wunderland, Schneewittchen als Werbeikone, Jesus in der Juniortüte und alle anderen Talente der Superhelden von Marvel bis DC verblassen im Vergleich zu ihrer Fähigkeit, die Taschen der Franchisenehmer vollzumachen.
Lebten die Gebrüder Grimm heutzutage, Rotkäppchen liefe, angereichert mit sinnentleerten Special-Effects und einer gewaltigen Schlacht um den Wald der Großmutter,  als dreiteiliger Monumentalfilm zu Weihnachten. Der böse Wolf bekäme eine Spin-Off Serie, in der wir erfahren würden, weshalb er eigentlich böse wurde, die Großmutter bekäme eine eigene Kochshow und Rotkäppchen machte Werbung für Dinge, die es, als ich ein Kind war, noch gar nicht gab. In einer App könnte man vor einem putzig animierten Wolf fliehen und mit einem Klick keine Neuigkeit aus Rotkäppchens Leben mehr verpassen. Dazu würde freilich auch das nicht unexplizite Pornovideo gehören, das der Jäger irgendwann hochgeladen hätte, wofür Rotkäppchen ihn verklagen würde, was wiederum zur Folge hätte, dass sie in der Klatschpresse noch einige Monate oben schwimmen würde. Bevor sie am Rande des Wunderlandes in einer Gegend enden würde, über die dort niemand gerne spricht: im Dschungelcamp, das Mowgli, Baghira und Balu kurz zuvor hätten räumen müssen, weil ihre Gewinnprognose im direkten Vergleich zum Känguruhodenlutschpotential zu gering ausgefallen war.
Um all das herum sprössen derweil Fabriken für kurzlebige Mythen. Legenden mit dreimonatiger Halbwertzeit, wie sie nach Abverkauf der entsprechenden Plastikfiguren, Bettwäsche und Klopapierkollektion nahtlos durch neue ersetzt werden können.
Und während wir uns noch an der immensen Auswahl gestutzter Wunder erfreuen, in denen Subversion keinen Platz mehr hat, wird keiner bemerken, wie irgendjemand heimlich irgend eine Aktienmehrheit an sich reißt, und das Ganze von einem Tag auf den anderen plötzlich das Coca-Cola, Nestlé oder Red Bull Wunderland heißt.
Aber auch daran würde wohl niemand sich stören.
Es ist lange schon nicht mehr das Nichts, das Fantasien bedroht. Oder vielleicht ist es ein anderes Nichts. Die käufliche Nichtigkeit einer entwunderten Welt, wo Hans im Glück längst in eine kleine chinesische Textilfabrik investiert hat.
Sie haben die Saurier, die Superhelden, die Piraten und die Hobbits bekommen. Haben die Magier, die griechische Mythologie und sogar Alice gekriegt. Und sie stehen längst im Begriff, das Wunderland in eine Reihenhaussiedlung zu verwandeln, wo unter jedem Namen GUT oder BÖSE am Klingelschild steht.
Doch es gibt sie noch immer, jene kleinen verwunschenen Orte jenseits des gemainstreamten Phantastikidylls, wo in Büchern und Filmen verwegene Träume gedeihen,  ihre Schublade sprengen und zu sonderbar sind, als dass sie irgend jemanden reich machen würden. Aber sie werden weniger. Und schwerer zu finden. Weil uns von allen Werbetafeln und aus jedem Monitor domestizierte Allerweltsträume mit weichgespült kleingeistiger Moral entgegenstarren, um uns auf die sparsame Seite der Vorstellung zu locken.
Sind wir in den vergangenen Jahren nicht genug durchgepottert, verstarwarst und gespongebobed worden, um inzwischen begriffen zu haben , wie viele phantastische Säue hinter den Türen jener Investoren darauf warten, durch das Wunderland getrieben zu werden und dass diese Leute längst genügend verschissene kleine Plastikfiguren produziert haben, um darin auch noch die kommenden drei Generationen zu ertränken?
Jenes Wunderland war einmal der Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Wo ich Freunde fand, die ich nicht bezahlen musste und Helden, die nicht bloß mein Taschengeld wollten. Dort habe ich denken, lieben und träumen gelernt. Ohne Abo, Sequel und das Freischalten höherer Level gegen Geld. Bevor das Wunderland ein lohnendes Geschäft wurde und man die Spiegel plötzlich auch von der anderen Seite polierte.
Das ist nun schon einige Zeit her. Und doch wünsche ich mir von Herzen, dass auch fortan Kinder, seien sie dick, schielend oder einfach nur anders, ihre Chance bekämen, an diesem Ort etwas zu finden, das magisch, besonders und nicht mit einem Werbeaufdruck versehen ist.

Wenn euch jener Ort etwas wert ist, wenn auch ihr dort selbst großgeworden seid, und die Zeit dort euch etwas gelehrt hat, dann wehrt euch! Schließt euch der Wunderlandmiliz an. Und kämpft. Kämpft mit allem was ihr habt. Mit der Kamera, den Tasten, dem Stift, mit euren Freunden, euren Latexschwertern, euren Nerfguns und eurem Steampunkzylinder. Vor allem aber mit eurer Phantasie! Darum, dass niemand sich die Brüste vergrößern muss, damit er in einem Märchen mitspielen darf und darum, dass die Macht der Vorstellung grenzenlos und unberechenbar bleibt.
Schreibt Bücher, die sonderbar sind, Geschichten, die verwirren, erschafft Figuren, die niemals in eine Juniortüte passen würden. Stellt den voranpreschenden Geldmaschinen Bollwerke aus Buchstaben und Träumen entgegen und ersinnt Unglaubliches statt Verkäufliches. Wagt, mehr Undenkbares zu denken!
Sonst werden früher oder später an jedem Weg der hinüber führt, kleine Kassenhäuschen stehen. Die Rechte an Sindbad gehören dann Monsanto und ausnahmslos alles wird ab 12 Jahren freigegeben sein.

Ich weiß, dass es für all das beinahe zu spät ist. Dass wir es vermutlich nicht aufhalten können. Aber mit etwas Glück wird es irgendwann heißen:
Die nahe Zukunft.
Das ganze Wunderland ist von Aktionären besetzt.
Das ganze Wunderland?
Nein. Ein von unbeugsamen Phantasten besiedeltes Dorf hört nicht auf, vermeintlichen Verkaufsargumenten Widerstand zu leisten ...

Bewaffnet euch. Schießt euch an!
Die Wunderlandmiliz braucht euch.


mit dank an caracan draco für das formidable logo, sowie frau t. und frau w. für ein beherztes korrektifizieren
 

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