DIE GENTRIFIZIERUNG DES WUNDERLANDES
oder
ich
will nicht alles kaufen müssen, was ihr denkt, das ich mir vorstellen können
soll
Das Wunderland, wo seit Urzeiten die phantastischen Figuren
der menschlichen Vorstellung leben, erglänzt dieser Tage von Gotham bis zur
Kristallstadt, von Hobbingen bis Nimmerland in hochauflösender Pracht. Überall
wird saniert. Gleich, ob es sich um das waldwärtige Domizil von Rotkäppchens
Großmutter, das Schloss der Herzkönigin oder die kleine, auf dem alten Friedhof
errichtete Neubausiedlung im dunklen Teil des Landes handelt. Schauplätze und
Darsteller von Terminator bis Schneewittchen müssen franchisetauglich gestaltet
werden, wenn Investoren das Wunderland in ein neues Zeitalter führen, einen
Markt von Endlosserien, Remakes, Sequels, Prequels und Drumherumerumquels
kultivieren und so neue Arbeitsplätze für die Wunderlandbelegschaft schaffen.
Zumindest für HD-taugliche und vor allem über- und unterdurchschnittlich
attraktive Darsteller. Denn Mittelmaß gibt es jenseits des Wunderlandes genug,
und seine Aufgabe besteht vor allem darin, dafür zu zahlen, sich ob des zu viel
oder zu wenig erfreuen oder erschrecken zu dürfen.
Derweil werden Märchen und Mythen so weit zusammengestrichen,
dass sie selbst noch ein seit zwei Jahren abgelaufener Joghurt versteht. Explosionen
statt Subtext, und ein notfalls erzwungenes Loveinterest. Wichtig ist den
Machern schlussendlich nur jene wohldosierte Mischung aus Beischlaf, Gewalt und
Romantik, wie sie optimalerweise ab 12 freigegeben wird, damit Kinoviehtrieb
und Merchandise sich auszahlen.
"Das Mädchen
mit den Schwefelhölzern II - jetzt wird noch mehr gezündelt"
Productplacement im Wunderland, Schneewittchen als
Werbeikone, Jesus in der Juniortüte und alle anderen Talente der Superhelden
von Marvel bis DC verblassen im Vergleich zu ihrer Fähigkeit, die Taschen der
Franchisenehmer vollzumachen.
Lebten die Gebrüder Grimm heutzutage, Rotkäppchen liefe,
angereichert mit sinnentleerten Special-Effects und einer gewaltigen Schlacht
um den Wald der Großmutter, als
dreiteiliger Monumentalfilm zu Weihnachten. Der böse Wolf bekäme eine Spin-Off
Serie, in der wir erfahren würden, weshalb er eigentlich böse wurde, die
Großmutter bekäme eine eigene Kochshow und Rotkäppchen machte Werbung für
Dinge, die es, als ich ein Kind war, noch gar nicht gab. In einer App könnte
man vor einem putzig animierten Wolf fliehen und mit einem Klick keine
Neuigkeit aus Rotkäppchens Leben mehr verpassen. Dazu würde freilich auch das nicht
unexplizite Pornovideo gehören, das der Jäger irgendwann hochgeladen hätte,
wofür Rotkäppchen ihn verklagen würde, was wiederum zur Folge hätte, dass sie
in der Klatschpresse noch einige Monate oben schwimmen würde. Bevor sie am
Rande des Wunderlandes in einer Gegend enden würde, über die dort niemand gerne
spricht: im Dschungelcamp, das Mowgli, Baghira und Balu kurz zuvor hätten
räumen müssen, weil ihre Gewinnprognose im direkten Vergleich zum
Känguruhodenlutschpotential zu gering ausgefallen war.
Um all das herum sprössen derweil Fabriken für kurzlebige
Mythen. Legenden mit dreimonatiger Halbwertzeit, wie sie nach Abverkauf der
entsprechenden Plastikfiguren, Bettwäsche und Klopapierkollektion nahtlos durch
neue ersetzt werden können.
Und während wir uns noch an der immensen Auswahl gestutzter
Wunder erfreuen, in denen Subversion keinen Platz mehr hat, wird keiner
bemerken, wie irgendjemand heimlich irgend eine Aktienmehrheit an sich reißt,
und das Ganze von einem Tag auf den anderen plötzlich das Coca-Cola, Nestlé
oder Red Bull Wunderland heißt.
Aber auch daran würde wohl niemand sich stören.
Es ist lange schon nicht mehr das Nichts, das Fantasien
bedroht. Oder vielleicht ist es ein anderes Nichts. Die käufliche Nichtigkeit
einer entwunderten Welt, wo Hans im Glück längst in eine kleine chinesische
Textilfabrik investiert hat.
Sie haben die Saurier, die Superhelden, die Piraten und die
Hobbits bekommen. Haben die Magier, die griechische Mythologie und sogar Alice
gekriegt. Und sie stehen längst im Begriff, das Wunderland in eine
Reihenhaussiedlung zu verwandeln, wo unter jedem Namen GUT oder BÖSE am
Klingelschild steht.
Doch es gibt sie noch immer, jene kleinen verwunschenen Orte
jenseits des gemainstreamten Phantastikidylls, wo in Büchern und Filmen
verwegene Träume gedeihen, ihre
Schublade sprengen und zu sonderbar sind, als dass sie irgend jemanden reich
machen würden. Aber sie werden weniger. Und schwerer zu finden. Weil uns von
allen Werbetafeln und aus jedem Monitor domestizierte Allerweltsträume mit
weichgespült kleingeistiger Moral entgegenstarren, um uns auf die sparsame
Seite der Vorstellung zu locken.
Sind wir in den vergangenen Jahren nicht genug
durchgepottert, verstarwarst und gespongebobed worden, um inzwischen begriffen
zu haben , wie viele phantastische Säue hinter den Türen jener Investoren
darauf warten, durch das Wunderland getrieben zu werden und dass diese Leute
längst genügend verschissene kleine Plastikfiguren produziert haben, um darin
auch noch die kommenden drei Generationen zu ertränken?
Jenes Wunderland war einmal der Ort, an dem ich aufgewachsen
bin. Wo ich Freunde fand, die ich nicht bezahlen musste und Helden, die nicht
bloß mein Taschengeld wollten. Dort habe ich denken, lieben und träumen
gelernt. Ohne Abo, Sequel und das Freischalten höherer Level gegen Geld. Bevor
das Wunderland ein lohnendes Geschäft wurde und man die Spiegel plötzlich auch
von der anderen Seite polierte.
Das ist nun schon einige Zeit her. Und doch wünsche ich mir von
Herzen, dass auch fortan Kinder, seien sie dick, schielend oder einfach nur anders,
ihre Chance bekämen, an diesem Ort etwas zu finden, das magisch, besonders und
nicht mit einem Werbeaufdruck versehen ist.
Wenn euch jener Ort etwas wert ist, wenn auch ihr dort selbst
großgeworden seid, und die Zeit dort euch etwas gelehrt hat, dann wehrt euch!
Schließt euch der Wunderlandmiliz an. Und kämpft. Kämpft mit allem was ihr
habt. Mit der Kamera, den Tasten, dem Stift, mit euren Freunden, euren
Latexschwertern, euren Nerfguns und eurem Steampunkzylinder. Vor allem aber mit
eurer Phantasie! Darum, dass niemand sich die Brüste vergrößern muss, damit er in
einem Märchen mitspielen darf und darum, dass die Macht der Vorstellung
grenzenlos und unberechenbar bleibt.
Schreibt Bücher, die sonderbar sind, Geschichten, die
verwirren, erschafft Figuren, die niemals in eine Juniortüte passen würden.
Stellt den voranpreschenden Geldmaschinen Bollwerke aus Buchstaben und Träumen
entgegen und ersinnt Unglaubliches statt Verkäufliches. Wagt, mehr Undenkbares
zu denken!
Sonst werden früher oder später an jedem Weg der hinüber
führt, kleine Kassenhäuschen stehen. Die Rechte an Sindbad gehören dann
Monsanto und ausnahmslos alles wird ab 12 Jahren freigegeben sein.
Ich weiß, dass es für all das beinahe zu spät ist. Dass wir
es vermutlich nicht aufhalten können. Aber mit etwas Glück wird es irgendwann
heißen:
Die nahe Zukunft.
Das ganze
Wunderland ist von Aktionären besetzt.
Das ganze
Wunderland?
Nein. Ein von
unbeugsamen Phantasten besiedeltes Dorf hört nicht auf, vermeintlichen
Verkaufsargumenten Widerstand zu leisten ...
Bewaffnet euch. Schießt euch an!
Die Wunderlandmiliz braucht euch.
mit dank an caracan draco für das formidable logo, sowie frau t. und frau w. für ein beherztes korrektifizieren
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