Mittwoch, Februar 06, 2008

MARTYRIUM BRAUNSCHWEIGENSIS

Mit freundlicher Unterstützung der deutschen Bahn


Berlin-Seesen. Ich erwarte nicht, dass Sie von zweiterem schon einmal gehört haben. Aber seien Sie versichert: es ist, wie so viele andere Strecken, auf denen deutschbahniges Schienenwerk erglänzt, eine Strecke voller Tücken. Und das, obwohl nur einmal umgestiegen wird.

Dieses Umsteigen aber hat es in sich!

Doch fahren wir fort: Ob auch pünktlich abgefahren, gelingt es dem ICE auf der Strecke eine gewisse Verspätung zu erwirtschaften. Damit aber haben wir gerechnet und es gibt nichts, das uns weniger erstaunen würde. Wir sind schließlich keine Anfänger.

Die Bahn jedoch hält auch für ihre abgeklärtesten Insassen noch Überraschungen bereit…

Wie sie nun von jenen üblen Störungen in diesen schrecklichen Streckenabschnitten erzählt, da weckt die warme, ehrliche Stimme des Zugführers beinaheVerständnis in uns. Wir fühlen uns sicher und geborgen, und das sogar zweisprachig.

Ein verspäteter Zug aus Leipzig wäre Schuld, säuselt unser Zugführer weiter, die Anschlusszüge jedoch würden ausnahmslos warten und überdies wäre die Verspätung minimal.

Er sagt es so souverän, wirkt dabei so glaubhaft, dass ich das erste Mal seit langem das Gefühl habe, dass sich bei der Bahn etwas getan hat und der Kunde hier plötzlich etwas wert wäre.

In der sicheren Gewissheit, dass alle Anschlusszüge warten, lehne ich mich zurück und spüre irgendwie, das alles gut werden wird.

Den Umsteigebahnhof, den lieblichen Braunschweiger Hauptbahnhof erreichend, bewege mich aus dem üblichen Reflex heraus ein wenig schneller, um schlussendlich die schmucke Rückseite meines, sich allmählich entfernenden Anschlusszuges gebührend betrachten zu können. Das ist ja alles durchgestylt. Eine hübsche Rückseite, rot und rein und darüber hinaus ganz allmählich kleiner werdend.

Ein einziger Blick auf meine Uhr verrät mit, wie lange jener Zug gewartet hat; eine Zeitspanne von null, nada, nixi, Nullinger.

Ein Mensch, der sich selbst gern reden hört, wird in einem solchen Fall wehenden Rockschoßes die nächste Beschwerdestelle ansteuern um seinem Unmut Luft zu machen. Ich bin da einfach gestrickt und rumpelstilze mich am nächsten Infoschalter in Pose.

Die dort anzutreffenden Damen haben ihr Rumpelstilzchentraining trefflich absolviert. Mein herausgemoserter Unmut zerschellt an einer massiven Mauer brutaler Freundlichkeit. Mit ihr im Hintergrund werden mir verschiedene Erklärungsangebote gemacht, unter anderem der, dass der Zugführer womöglich nur versehentlich durchgesagt habe, dass die Anschlusszüge warten werden.

Laut Computer nämlich sei nie vorgesehen gewesen, dass der von hinten so beschauliche Zug warten sollte.

Angestrengt schauen die Amazonen ewiger Freundlichkeit auf ihren Bildschirm und reichen mir schlussendlich lächelnd die Karte des Kundenservices.

Ich stehe da und habe die schaurige Vermutung, dass die Bahn tatsächlich im Begriff steht, eine ganz eigene Form von Humor zu entwickeln. Ich stelle mir vor, wie der Zugführer nach der Durchsage hämisch lachend in seiner Kabine zusammenbricht.

Als nächstes werden sie einem im Speisewagen das Essen ohne Besteck servieren, während Kontrolleure zu entwertende Fahrkarten verbrennen um die ehemaligen Inhaber des Schwarzfahrens zu bezichtigen.

Für Gedanken dieser Art hätte ich durchaus noch Zeit. Der nächste Zug geht in einer Stunde.

Eine Stunde, werden sie sagen, das ist doch nichts. Aber ich erinnere sie daran, dass ich mich in Braunschweig befinde. Der Hauptbahnhof dieser Stadt ist ein Ort, an dem sich niemand länger als nötig aufhält, was vielleicht auch die überstürzte Flucht des Zugführers mitsamt meinem Anschlusszug erklärt.

In diesem Zusammenhang aber dämmert mir ganz allmählich, was für ein perfides System hinter dem Ganzen steckt: Bei der Braunschweiger Verspätungsstrategie handelt es sich ganz offensichtlich um eine Maßnahme zur zwangsweisen Bahnhofsvitalisierung. Verspätungen werden seitens der Bahn geschickt arrangiert, um den Geschäften innerhalb dieses tristen Bahnsarkophags Kunden zuzuführen und der Braunscheiger Bahnhofswirtschaft zum Aufschwung zu verhelfen!

Natürlich gegen entsprechende Anteile.

Das dürfte schon nicht unrentabel sein, wenn man überlegt, wozu 200 zwangswartende Fahrgäste auf einem Bahnhof neigen. Von Zeitungskauf bis Stoffwechsel ist da einiges zu holen. Wahrscheinlich besteht schlussendlich die halbe Braunschweiger Bevölkerung aus Gestrandeten, aus Bahnbrüchigen, deren Anschlusszug niemals kam und die so zu einem Teil jener Stadt wurden, die vor hundert Jahren wahrscheinlich lediglich aus einem Bahnhof bestand.

Mich schaudert bei dem Gedanken, in Bälde Braunschweiger zu sein.

Ich hoffe auf den nächsten Zug, während ich mit einem Cafe die Braunschweiger Wirtschaft ankurbele, Arbeitsplätze sichere und von der Bedienung erfahre, dass an diesem Bahnhof noch nie ein Zug gewartet hat.

Vielleicht ist es aber auch anders. Womöglich bedeutet „warten“ in dieser Gegend etwas anderes als dort wo ich herkomme. „Warte auf mich“ entspräche hier dann in etwa „Geh schon mal vor“, „er hat jahrelang auf sie gewartet“ würde in etwa „ er ist mehrere Jahre vor ihr geflohen“ bedeuten und ein Wartezimmer würde zu einem Raum, aus dem man Leute schnellstmöglich verjagt. Mit Hilfe von derlei sinnentleerten Gedankenspielen stehe ich es durch, mein Martyrium Braunschweigensis, und nach einer Stunde massiven Unterstützens des Wirtschaftsstandortes Braunschweig-Hauptbahnhof naht schließlich doch jener Zug, der mich tiefer in die niedersächsische Provinz tragen und mein Leben verändern wird.

Er hält sogar, hält zur vorgesehenen Zeit am angekündigten Bahnsteig.

Nicht dass das ungewöhnlich wäre, aber wie ich bereits andeutete, befürchte ich ja, dass die Bahn ein gewisses Maß an, ich möchte sagen beängstigenden Humor, zu entwickeln scheint.

Doch während ich einsteige, ist nichts davon zu bemerken. Da ist weder ein Kontrolleur mit Clownsnase, noch ein Furzkissen auf meinem Sitz.

Erschöpft hernieder sinkend vergegenwärtige ich mir noch einmal die Erkenntnisse der vergangenen Stunde, ihre Bedeutung für das Braunschweiger Stadtbild und die örtliche Kultur, deren Basis der Import unfreiwillig Wartender und ihre Ressourcen darstellen.

Ich bin eine Stunde zu spät.

Doch in fünf Minuten soll dieser Zug abfahren. Kann es tatsächlich sein, dass sich die Bahn an diesem Tag tatsächlich einen letzten Scherz verwehrt und mir keine weiteren Steine in den Weg legt? Es scheint beinahe so. Ich sinke einmal mehr in meinem Sitz zurück, wähne mich einmal mehr in jener trügerischen Sicherheit, wie sie im Inneren eine Wagons der deutschen Bahn grundsätzlich völlig fehl am Platz ist.

Dann ist er gekommen.

Der Zeitpunkt der Abfahrt.

Oder sollte ich besser sagen „der theoretische Zeitpunkt der Abfahrt“? Womöglich auch „der Zeitpunkt der theoretischen Abfahrt“? Das Ergebnis ist das gleiche: der Aggregatzustand des Zuges ist stehend, derweil er fahrend sein sollte.

Die souveräne Stimme des Zugführers vermeldet, dass die Abfahrt des Zuges sich um einige Minuten verzögert, da noch auf Anschlussreisende gewartet werden müsse.

Und milde lächelnd nehme ich auch die zusätzliche Verspätung ohne Aufpreis noch in Kauf.

Vor kaum einer Stunde hatte ich mich in diesem Bahnhof in dem nie ein Zug wartete, ob dieses Umstandes beschwert.

Und nun wartete direkt unter mir der wohl erste Zug in der Geschichte des Braunschweiger Bahnhofs. Fortan, würde niemand hier mehr stranden. Reisende würden in die Arme ihrer Liebenden heimkehren, zurück zu ihren Familien, denn von nun an würden die Züge warten.

Ich hatte dieser Braunschweig ein neues Gesicht verliehen.

Braunschweig, dessen Einwohner eigentlich nur auf ihren Anschlusszug warten…

© christian von aster

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